Bis 1952
herrschte in der Schweiz die Fiktion, dass es in der
Familie nur ein Bürgerrecht gebe, und zwar
dasjenige des Vaters. Die in der Schweiz geborenen
Kinder übernahmen automatisch das Bürgerrecht des
Vaters. Entsprechend verlor eine Schweizerin, die einen
ausländischen Mann heiratete, ihr Bürgerrecht und nahm
das ihres ausländischen Ehemannes an. Eine ausländische
Frau, die einen Schweizer heiratete, erlangte dafür
automatisch das Schweizer Bürgerrecht. Dies führte
mitunter zu bizarren Situationen. Eine durch Heirat zur
Schweizerin gewordene Frau, die kein Wort Deutsch oder
Schwyzerdütsch sprach, konnte einer in der Schweiz
geborenen, Schweizerdeutsch sprechenden und mit den
hiesigen Verhältnissen vertrauten Schweizerin
entgegenhalten, sie sei gar keine Schweizerin. Meine
Mutter musste dies einmal erfahren, als ihr eine mit
einem Schweizer verheiratete Nachbarin italienischer
Abkunft sagte: „Iggä Dir scho zeige, was e gueti Swyzeri
is“, worauf ihr meine Mutter eine Ohrfeige gab und ihr
antwortete: „Jetzt weisch, was en richtigä Tschingg isch“.
Diese
Fiktion des einheitlichen Bürgerrechts in der Familie
brachte vielen Familien grosses Leid. Auch unserer
Familie hat es schwer geschadet. Zwar konnten meine
Mutter, geb. 1930 in Zürich) und meine Grossmutter
väterlicherseits (Lina Widmer, geb. 1897 in Kirchdorf
AG) nach der Revision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952
ihr Schweizer Bürgerrecht wieder zurückerlangen (die
Stempelgebühr betrug Fr. 52.-) – wir anderen aber, d.h.
mein Vater, meine Schwestern und ich, blieben vorerst
Italienerinnen. Das führte wiederum zu Spannungen
zwischen meinen Eltern: In einer nicht vorherzusehenden
politischen Situation hätte es dazu kommen können, dass
mein Vater mit seinen Töchtern nach Italien abgeschoben
würde. Meine Mutter wollte aber unter keinen Umständen
die Schweiz verlassen. Einen Antrag auf Einbürgerung für
die ganze Familie zu stellen, war im Prinzip möglich,
aber in unserer finanziellen Situation undenkbar – bei
einem monatlichen Schneiderlohn von 350 Franken.
Dieses Foto zeigt die junge Ursula
(knapp 17 Jahre alt und im 5. Monat schwanger)
glücklich und zuversichtlich im Glauben, Heinz
(Schweizer von 24 Jahren), den Vater ihres
zukünftigen Sohnes heiraten zu können. Zwei Wochen nach
dieser Fotoaufnahme wird sie mit Handschellen abgeführt
und zur
"Nacherziehung" nach
Hindelbank (grösstes Frauengefängnis der Schweiz)
überführt. Ihr Leben spielte
sich fortan in der Zelle ohne Türklinke ab.Mo-Fr
Einschluss von 18:30 bis 06:30 Uhr, … Sa und So
Einschluss ganzer Tag, ausser den Mahlzeiten und eine
Stunde am Tag durfte sie mit den Insassinnen in den
Gefängnishof. Es gab keinen Unterschied in der
Behandlung der Braunen „Arbeitserziehungsanstalt“, und
der Blauen "Strafvollzugsanstalt" – nur wurden die
Blauen vom Staat frei gehalten, während die Braunen
ihren Unterhalt selbst bezahlen mussten, falls
Zahlungsfähigkeit irgendwie gegeben war. Ihre Mutter
zahlte für sie
6'770.90Franken.
– Die Folgen: während vielen Jahren litt Ursula unter
Bulimie und Klaustrophobie. Diese "Nacherziehungsmethode
für Minderjährige" wurde zwar im Jahre 1969 aufgehoben,
d. h. 1 Jahr später nach Ursulas Entlassung. Aber für
Ursula blieb es eine lebenslange Notwendigkeit, sich zu
rechtfertigen: "Ich war nicht im Gefängnis"!!! –
diese immer wiederkehrende Demütigung!
Dank der doppelten Moral, kamen die damaligen
Täter ungeschoren davon. Erst viele Jahre später vernahm
Ursula die schrecklichen Schicksale dieser Menschen, die
ihr in ihrem Teenageralter beinahe das Leben und den
Verstand kosteten.
Ursula hat ihnen verziehen und sie glaubt nicht nur,
dass sie dies stark gemacht hat, sondern auch, dass sie
ihren Weg unbeirrt mit viel Erfolg weitergegangen ist.
Diese Foto zeigt,
nach über 1 Jahr Gefängnisaufenthalt, die seelisch
angeschlagene, junge Ursula im Alter von 181/4 Jahren,
Mutter eines 8 Monate altem Babys. Kurz nach der Geburt
ihres Sohnes wurde ihr das Kind zwecks Adoption
weggenommen. Nach endlosen drei Monaten gab man ihr ihr
Kind auf ihr ständiges Drängen hin wieder zurück. Sie
hat damals grosses Glück gehabt.
Aber was ist aus den anderen Frauen geworden, die diese
Kraft und Energie nicht mehr aufbrachten? Ursula brauchte, wenn auch sehr erfolgreich in ihrem
Leben, über 30 Jahre, um dieses Trauma (sexueller
Missbrauch, Freiheitsentzug und Kindswegnahme)
aufarbeiten und niederschreiben zu können.
Was
meinte die damalige Amtsvormundschaft mit
"Nacherziehung"???
Zwei Beispiele unter vielen: Elsa hatte drei Ehemänner und einen Sohn mit
Arsen vergiftet (der Sohn musste sterben, weil er den
Mord am Vater mitbekommen hatte). Als Ursula sie mit
jugendlicher Neugier fragte, ob sie ihre Taten bereue,
sagte Elsa, „Auf gar keinen Fall!“. Sie würde es wieder
tun; die Männer hätten nichts anderes verdient.
Die Mörderin Barbara erzählte ihr mit grösster
Genugtuung, wie sie ihrem Onkel – nachdem sie ihn wegen
sexueller Belästigungen mehrfach vorgewarnt hatte – den
Schädel mit einer Axt gespalten habe. Sie steigerte sich
in diese Erzählung hinein und schien die Einzelheiten
förmlich zu geniessen. Sie schilderte den Blutstrahl,
der aus seinem Schädel geschossen war „wie der
Wasserstrahl aus der Nase eines Walfischs“, und den
unsagbar dummen, fragenden Blick, den er auf sie
gerichtet hatte, bevor er tot zu Boden fiel. Nach der
Tat habe sie einen Mordshunger und grossen Durst
bekommen. Nachdem sie beides gestillt hatte, habe sie
zwei Stunden geschlafen und danach die Polizei
angerufen. Die genüssliche Darstellung dieser Szenen
schien sie teuflisch zu amüsieren. Sie wiederholte sie
immer und immer wieder. Sie gab vor, ihre Inhaftierung
eher als eine Art Belohnung zu empfinden. Sie hatte
jetzt endlich „Ruhe vor diesem Schwein“ und fühlte sich
für einige Jahre auch sicher vor ihrer Familie.
In ihrem Buch «Geboren in
Zürich» arbeitet Ursula Biondi ihre traumatische Jugend in
Zürich und den Kampf ihrer Familie um Einbürgerung auf. Sie
wolle damit alle Menschen ermutigen, schreckliche Erlebnisse
aufzuschreiben.
Manuela Letsch «Du
kannst tausendmal fallen, nur liegen bleiben darfst du nicht.»
Dieser Leitspruch ihrer Grossmutter begleitete Ursula Biondi auf
ihrem harten Weg.
Sie kam als Italienerin
der vierten Generation in Zürich zur Welt. Ihre Mutter Trudi
Hasler hatte das Schweizer Bürgerrecht verloren, weil sie einen
Italiener geheiratet hatte, dessen Mutter ihrerseits Schweizerin
gewesen und nach ihrer Heirat mit einem Italiener zur
Ausländerin gestempelt worden war.
In ihrem Buch «Geboren in
Zürich» arbeitet die heute 50-jährige Autorin ihre Kindheits-
und Jugenderlebnisse auf und beschreibt das Ringen einer Familie
um Einbürgerung.
Demütigende
Realität
«Als meine Mutter den Film
Ðie Schweizer Macher zum ersten Mal im Kino sah, brach
sie in Tränen aus», so Biondi. Die Verfahren seien weitaus
demütigender gewesen als im Film dargestellt.
Einbürgerungsbeamte seien grundsätzlich unangemeldet gekommen,
hätten sämtliche Schränke geöffnet und die Nachbarn ausgefragt.
Aus Angst vor einem schlechten Ruf verbot der Vater seinen
Töchtern, sich mit Jungen zu treffen, damit man ihm nicht
anlasten könne, er habe «Buebemeitli».
An der strengen Haltung
ihres Vaters zerbrach bereits Ursulas erste Liebe. Knapp 14
Jahre alt war sie damals, als die Mutter ihres Freundes sie
wegen Verführung eines Minderjährigen anzeigte ihr Freund Albert
war gerade einmal zwei Monate jünger als sie. Sie erhielt einen
amtlichen Verweis. Schlimmer jedoch war der Kommentar ihres
Vaters: «Ich wünschte, sie wäre tot.»
Heute könne sie ihrem
Vater nicht mehr böse sein, meint Biondi im Anschluss an die
Lesung. Sie hätten sich ausgesprochen, ausgeweint, und sie
verstehe die Angst, die er damals hatte. Sie selber sei, im
Gegensatz zu ihrem Vater, stets eine gewesen, die auf die
Barrikade ging, erzählt Biondi. So floh sie als 17-Jährige mit
ihrem Freund Heinz nach Italien, wo sie wenige Tage später
wieder aufgegriffen wurde.
Ohne Verfahren
ins Gefängnis
Als sich daraufhin
herausstellte, dass sie schwanger war, wird sie, ohne ein
Verbrechen begangen zu haben, ohne Verfahren und ohne je
einvernommen worden zu sein, für zwei Jahre ins Frauengefängnis
Hindelbank eingewiesen. Ihren Sohn nimmt man ihr zehn Tage nach
der Geburt weg. Immer wieder beschreibt Biondi die
Schreiattacken, die sie in ihrer Zelle hatte, besonders nachdem
man ihr Baby weggenommen hatte. Einmal habe eine Mitgefangene
ihr Schreien nachgeahmt. Da sei sie so wütend geworden, dass sie
ein Brett gepackt und es mit voller Wucht nach der Frau geworfen
habe. Sie sei selber erstaunt gewesen über die Kraft, die sie
hatte. «In dem Moment bin ich zur Kämpferin geworden, die ich
heute bin», ist Biondi überzeugt. Nach drei Monaten erhielt sie
ihr Kind zurück und wurde nach einem Jahr wegen guter Führung
entlassen, «18 Jahre alt, mit einem Baby unter dem Arm und 23
Franken Startkapital».
Befreiender
Schreibprozess
Lange hat es gedauert, bis
sie bereit war, ihre Geschichte niederzuschreiben. Doch das
Schreiben sei wie eine Befreiung gewesen. «Bringt zu Papier, was
ihr erlebt habt», fordert Biondi ihr Publikum auf, «damit ihr
den Stachel nicht ein ganzes Leben lang mit euch herumtragen
müsst.»
Vortrag vom 25.11.02 in
Zürich
von Dr. med. Ursula Davatz
FMH Psychiatrie und
Psychotherapie
Familiensystemtherapie nach Murray Bowen
www.ganglion.ch
Einige Worte zur „Aufarbeitung“ von Frau Ursula Müller-Biondi
anlässlich der Buchvernissage
-
Geschichten erzählen kann Unterhaltungswert haben im
Sinne der Belletristik
-
Geschichten erzählen
kann eine hypnotische Wirkung haben im Sinne der Magik
der Narrative, Märchen erzählen, Tausend und eine Nacht.
-
Geschichten aufschreiben
kann Geschichte machen im Sinne der Historiker oder der
Klassiker.
-
Die eigene
Lebensgeschichte aufschreiben im Sinne eines „narrativen
Rekonstruktivismus“ – insbesondere, wenn diese
Lebensgeschichte zum Teil sehr schmerzlich war und an
die Grenze dessen ging, was ein Mensch ertragen kann, -
dies hat eine „heilende Wirkung“. Frau Müller kam
ursprünglich zu mir um einen Ausbildungsnachweis für die
Ausbildung in ganzheitlicher Psychologie zu erhalten,
aber die Gespräche haben sich in Richtung Aufarbeitung
vieler traumatischer Erlebnisse vom 11. bis 18.
Lebensjahr entwickelt.
Es war meine Aufgabe,
als Therapeutin Frau Ursula Müller-Biondi beim
Aufschreiben ihrer Lebensgeschichte und gleichzeitiger
Aufarbeitung der Traumatas zur Seite zu stehen, sie
wohlwollend zu begleiten, ihr Unterstützung zu geben wo
der Schmerz allzu gross war, ihr Mut zu geben weiter zu
machen und auf sich zu vertrauen, dass sie es schafft an
sich zu glauben.-
Es war eine schöne
Aufgabe, die ich gerne getan habe.
-
Heute, da das Werk
vollendet vor uns liegt, kann ich ihr nur gratulieren.
Als erstes, für ihre Kraft ihr Leben als solches
überhaupt bestanden zu haben und als zweites zu ihrer
mutigen Aufarbeitung ihrer eigenen, ganz persönlichen
Narrative, im Sinne einer „narrativen Rekonstruktion“.
Der „narrative Rekonstruktivismus“ als „Philosophische
Therapieform“, die in therapeutischen Kreisen immer mehr
an Bedeutung gewinnt.
Eröffnungsrede von Dr. Alfred Müller-Biondi
anlässlich der Buch-Vernissage vom 25.
November 2002
189 Personen anwesend
Sehr
geehrte Damen und Herren
Liebe Familienmitglieder und Freunde
Ich
freue mich, Sie im Namen meiner Frau, der Autorin Ursula
Müller-Biondi, zur heutigen Vernissage ihres neuen Buches recht
herzlich begrüssen zu dürfen.
Der
Ort der heutigen Veranstaltung ist nicht etwa zufällig, sondern
ganz bewusst gewählt worden. Ursula erlebte nämlich ihre ersten
fünf Kindheitsjahre gleich hier nebenan an der Froschaugasse 2,
in der Dachwohnung im obersten Stock, die ihre Eltern auch
„Taubenschlag“ nannten, weil unter dem Dach tatsächlich auch
Tauben hausten. Ursula hat deshalb noch immer eine besondere
Beziehung zu diesem Quartier.
Nach
langer innerer Vorbereitung hat Ursula in 2 ½-jähriger harter
Arbeit ihr erstes Buch mit dem Titel „Ursula Biondi - Geboren
in Zürich“, eine Lebensgeschichte, geschrieben, das nun
vorliegt. Ich gratuliere ihr sehr herzlich zu diesem Buch. - Ich
gratuliere Dir, Ursula. -
Sie
arbeitet darin einerseits Ihre eigene Lebensgeschichte auf, geht
aber andererseits auch auf die Verhältnisse in den
Sechziger-Jahren, also vor noch nicht einmal 40 Jahren ein, als
es noch kein Frauenstimmrecht, dafür aber ein Konkubinatsverbot
und ein Eheverbot für schuldig Geschiedene gab. Damals galt auch
noch das aus der reinen Männerpolitik hervorgegangene
Bürgerrechtsgesetz, dessen Leitgedanke die Einheit des
Bürgerrechts in der Familie war, und durch das die Schweizer
Frauen, die einen Ausländer heirateten, ihr eigenes Schweizer
Bürgerrecht verloren. Auch die Kinder von Schweizer Müttern, wie
zum Beispiel Ursulas Vater und Ursula selber, galten nach diesem
Gesetz als Ausländer. Ab 1952 konnten dann wenigstens die Frauen
ihr Schweizer Bürgerrecht wieder zurückverlangen, die Väter und
die Kinder aber blieben Ausländer. Was diese - heute kaum mehr
vorstellbaren - gesetzlichen Bestimmungen für die junge Ursula
bedeuteten, darauf geht sie in ihrem Buch schonungslos ein. Das
Buch soll ein Zeugnis des damaligen Zeitgeistes sein und
aufzeigen, was damals in unserer Stadt alles möglich war, und
wie die Behörden ihre Macht gegenüber wehrlosen Menschen
ausspielten. Ich selber gehörte damals als junger Jurist zu
dieser Behördenklasse, hätte es mir aber nicht träumen lassen,
dass in diesen Kreisen einem jungen wehrlosen Menschen und
insbesondere diesen sog. Ausländern, die nach heutigem Recht gar
keine solchen mehr wären und es eigentlich auch nie waren,
derartiges Unrecht angetan werden konnte. Die Geschichte der
jungen Ursula Biondi ist spannend und geht unter die Haut. Ich
kann Ihnen nur empfehlen, sie aufmerksam zu lesen und daraus
Ihre eigenen Schlüsse und Lehren zu ziehen.